Hinschauen, einmischen, kümmern

Miteinander füreinander schauen – einer jener Werte, die mir wichtig sind und die ich pflege. Ich bin überzeugt, dass es uns allen schlechter ginge, wenn wir nicht mehr hinschauten, uns nicht mehr einmischten, uns nicht mehr um andere kümmerten! Aber offenbar gilt das nicht für alle …

Ich bin einer, der hinschaut, einer, den andere Menschen interessieren. Einer, der sich um andere kümmert, wenn Hilfe und Unterstützung gefragt ist (und das beziehe ich jetzt ausdrücklich nicht nur auf meine berufliche Tätigkeit). Und einer, der sich einmischt. Das ist nicht immer einfach, aber wichtig!

Drei ganz konkrete Beispiele, in denen ich mich eingemischt habe, in denen mich um andere gekümmert habe und dabei ganz bewusst in der Kindheit eingetrichterte Grundsätze wie «Das geht uns nichts an!» missachte:

Beispiel eins

Markus, ein guter Freund von uns und Götti (Pate) unserer Tochter Nathalie, erkrankte 1999 an Amyotropher Lateralsklerose (ALS), einer fiesen, nicht heilbaren Krankheit, die den Körper aber nicht den Geist angreift. Schon bald nach Beginn der Krankheit und bis zu seinem Tod im Februar 2003 (im Alter von 46 Jahren!) war er auf Pflege angewiesen. Schon nach wenigen Monaten war er nur noch dank technischer Hilfsmittel (Rollstuhl, Hebevorrichtung fürs Auto usw.) mobil. Aus nahe liegenden Gründen war unsere Freundin bei allen Fahrten auf einen freien Behindertenparkplatz angewiesen, damit sie Platz für Rollstuhl und zum Herausheben von Markus hatte. Unglaublich aber wahr: in den meisten Fällen mussten sie wieder umdrehen und nach Hause fahren, weil die Behindertenparkplätze besetzt waren – in fast allen Fällen von nichtbehinderten, faulen, dummen, rücksichtslosen Menschen. Früher hat mich das nur gestört. Seit ich aber das Schicksal von Markus hautnah miterlebt habe, spreche ich jeden und jede direkt und sofort an. Oft freundlich bittend (was mir nicht immer gelingt), diesen Parkplatz freizuhalten für Menschen, die froh wären, die 10 Meter zu den anderen Parkplätzen gehen zu können. Nicht immer fällt mir das leicht, verlangt Ãœberwindung. Aber ich tue es – aus Ãœberzeugung!

Beispiel zwei

Vor dem «Migros» bei uns im Dorf gibt es ein paar, wenige Parkplätze. Eng und für die meisten Autos zu kurz. Und es gibt ein paar Schlaumeier, die ausserhalb der markierten Felder parkieren und dabei oft so nah an den geparkten Autos, dass diese kaum mehr aus dem Parkplatz herausfahren können. Als ich eines Tages dort einkaufte und wieder aus dem Laden kam, fielen mir ein paar Gaffer auf, die zum Parkplatz hinüber schauten und sich offenbar amüsierten. Dort bemerkte ich eine Frau, die versuchte, mit ihrem Auto aus dem Parkplatz zu fahren, das aber unmöglich schaffen konnte, weil ein nicht in den Parkfeldern abgestelltes Auto das verunmöglichte. Die Frau war in Tränen aufgelöst und mit den Nerven fertig: im Auto lag ihr wenige Monate altes Baby und schrie herzerweichend. Ich sprach die Frau an und fragte, ob ich ihr helfen könne, ob ich den Fahrer im «Migros» ausrufen lassen solle (was ich dann auch tat – leider ohne Erfolg). Sie müsse nach Hause, ihr Baby füttern, sagte sie unter Tränen. Ich bot ihr an, sie und ihr Baby nach Hause zu fahren, was sie aber dankend ablehnte. Ich schlug ihr vor, die Polizei zu rufen um den Wagen öffnen und/oder abschleppen zu lassen. Da ihr dafür der Mut fehlte, übernahm ich das für sie und blieb die 15 Minuten bei ihr, bis die Polizei eintraf und die Sache in die Hand nahm. Ich verabschiedete mich und freute mich über ihr herzliches «Dankeschön!». Dass andere (vermutlich minutenlang) einfach zugeschaut und sich sogar über die Situation amüsiert haben, ist mir bis heute unbegreiflich!

Beispiel drei

Auf der Fahrt vom Büro nach Hause, kurz vor unserem Haus, bemerke ich ein Auto, das anhält. Der Fahrer schaut hinüber auf die Wiese und fährt wieder los. Mitten auf dieser Wiese, etwa 50 m in östlicher Richtung von der Strasse entfernt, erkenne ich einen menschlichen Körper, der dort liegt. Regungslos! Ich fahre in unsere Garage und renne vors Haus, um sicher zu sein, dass ich mich zuvor nicht getäuscht habe. Tatsächlich: da liegt ein Mensch, flach auf dem Boden, ausgestreckt, mitten in der Wiese. Zwei weitere Autos fahren vorbei, verlangsamen, gaffen, fahren weiter. Und drei Fussgänger. Ich rufe unserer Tochter und erkläre ihr, dass ich hinüber auf die Wiese gehe. Sie solle vom Küchenfenster aus beobachten und die Polizei anrufen, wenn ich mit beiden Armen winken würde. Ich gehe zügig auf die Person zu, beobachte und rufe immer wieder laut «Hallo?». Mittlerweile bin nur noch etwa 15 Meter von der Person entfernt, da bewegt sie sich und setzt sich auf. Eine junge Frau, etwa 18-20 Jahre. «Geht es Ihnen gut?», frage ich. «Ja, ja» antwortet sie mit klarer Stimme. «Ist bei Ihnen alles in Ordnung oder brauchen Sie Hilfe?» fasse ich nach. «Nein, alles ist OK, vielen Dank!» Offenbar einfach eine Frau, die die letzten Sonnenstrahlen des Abends geniesst – auf allerdings sehr unkonventionelle Art und Weise. Vom Haus beobachte ich sie noch weiter, bis ich sehe, dass sie aufsteht und geht. Nathalie und ich lachen: sich einfach so in die kalte, feuchte Wiese legen? Verrückt! «Aber richtig verrückt ist doch, dass sich vor uns niemand um die junge Frau gekümmert hat. Ohne zu wissen, ob sie Hilfe braucht. Unglaublich!», sage ich.

Verrückt! Verrückt!!!

Damit ich richtig verstanden werde: mir geht es hier nicht darum, Euer virtuelles Schulterklopfen zu erheischen oder mich als «besonders» hinzustellen. Mir geht es darum, Euch uns zu ermuntern, Euch uns weiterhin einzumischen, hinzuschauen und uns um einander zu kümmern. Und uns gegenseitig Mut zu machen, nie, nie, nie damit aufzuhören.

Wenn wir nicht mehr miteinander füreinander schauen, wär‘ das der Anfang von unserem Ende!

26 Kommentare zu „Hinschauen, einmischen, kümmern

  1. Sprichst mir aus der Seele. Ein Thema, das mich auch immer wieder aufregt. Unglaublich wie oft einfach weggesehen oder weitergegangen wird.
    Mut zum Handeln, lautet die Devise.

  2. Ich finde es auch wichtig, dass man sich als Teil der Gesellschaft versteht und sich darum auch einmischt und kümmert, wie Du das hier sehr anschaulich beschreibst. Solche Beiträge finde ich wichtig. Dein letztes Beispiel zeigt aber auch, dass es dabei auch sehr darauf ankommt, jede Situation zuerst fragend zu ergründen. Selten ist eine Situation so, wie sie uns auf den ersten Blick erscheint. Diese Erkenntnis soll uns natürlich nicht davon abhalten hinzuschauen und zu handeln, sondern uns einfach vorsichtiger werden zu lassen, unserem ersten (Ver-)urteilungs-Impuls zu folgen.

    1. @Andreas: Danke für Deine Zeilen. Ich stimme Dir 100%ig zu. Es gilt auch immer zu überlegen, ob es bessere (erfolgversprechendere, sichere, effektivere …) Interventionen gibt und das Risiko abzuwäten. Ich war zum Glück noch nie in einer Siutation, in der Menschen gewalttätig wurden und aufeinander los gingen. Und ich weiss – ehrlich gesagt – nicht, ob ich dort einschreiten würde. Was ich ganz sicher tun würde: die Polizei verständigen.

  3. Trotzdem ein virtuelles Schulterklopfen, guter Beitrag! Ärgere mich öfters, schreite aber zuwenig ein. Grund? Fehlende Zivilcourage, Angst vor (vermeintlicher oder offensichtlicher) Gewaltanwendung, etc. Was sind deine Erfahrungen?

    1. @danloc_sg: Danke fürs Schulterklopfen ;-) Bei Gefahr von Gewalt bin ich auch zurückhaltend (wie oben beschrieben und nota bene von der Polizei empfohlen). Bei den Situationen mit den Behindertenparkplätzen kann es schon mal sein, dass jemand laut und aggressiv reagiert (interessant: eher die Frauen als die Männer), aber handgreiflich wurde noch niemand. Zum Glück!

    1. @Martin: Mich hat mal eine «Dame» – nachdem sie zuerst laut wurde – gefragt: «Haben Sie überhaupt einen Ausweis? Sind Sie überhaupt zuständig hier?» Ich habe geantwortet «So zuständig, wie wir alle sein sollten, damit’s uns allen gut geht.» Das war zu hoch für sie und sie hat kapituliert (sprich: ihr Auto weg gestellt) :-)

  4. Du hast vollkommen Recht! Denn, vom Wegschauen werden solche Situationen nicht weniger. Ich klopf dir auch auf die Schulter und hab weiter den Mut, dich einzumischen. Ich hatte solche Situationen, wie du beschrieben hast noch nicht. Einzig, ich half einer Frau ihren Kinderwagen die Treppe hoch zu transportieren. Da sind auch viele mit Scheuklappen einfach weitergelaufen.

  5. @marcel kenne das eine ähnliche Geschichte, da hat mir einer erzählen wollen dass sein Cousin der an Stöcken geht, berechtigt wäre hier zu Parken und er ihn fleissig rum fährt somit er hier parken dürfe. Und er meinte es in vollem ernst, schon dreist wie gewisse Leute durchs Leben gehen.

  6. Es wären genau solche Chancen, die eigentlich klein sind, die wir (manchmal mit Mut) packen sollten – jeder/r – und schlagartig wäre alles anders! Reloveution im Kleinen.

    Man stelle ich vor, es wären 200’000+ Leute in der Schweiz unterwegs, die Schwangeren den Platz frei machen, helfen Kinderwägen in Züge zu lüpfen, nicht nur für Igel, sondern auch für Autostopper bremsen, Älteren den Ticketautomaten erklären – sich halt einfach für Schwächere einsetzen!

    Und bis wir das richtig intus haben, braucht es solche Erinnerungen – danke! Denn irgendwo sind wir alle schwach und froh um Unterstützung.

  7. Danke für Deinen Beitrag und Dein Engagement! Das Beispiel 1, ist mir regelrecht „eingefahren“. Ja ich habe auch schon den Behinderten-Parkplatz benutzt, einfach weil ich soooo unglaublich in Eile war und alles andere, ausser mir selbst, völlig unwichtig war. Fazit: Beschämend, peinlich, egoistisch, Gedankenlos einfach völlig daneben! Ich lasse das ab sofort und zwar für immer, versprochen!

  8. Danke auch für den Beitrag.
    Als Frau ist man halt dann oft körperlich benachteiligt und da fehlt mir manchmal einfach der Mut. Vorallem, da es beim letzten Mal ziemlich in die Hosen ging und mein Mann schlussendlich mit blauem Auge und zerschlagener Brille dastand.

  9. Ja, und ich hatte wirklich Angst.
    Falls Dich die Geschichte interessiert, dann kannst Du sie hier nachlesen.
    http://baby.alcam.ch/blog/?p=3051
    Hat mich noch lange beschäftigt. Vorallem weil ich jetzt sehe, dass wir der armen Frau kein bisschen geholfen haben und ihr Leben einfach so weitergeht wie bisher. Er trinkt und verprügelt sie dann.
    Ich weiss nicht, ob wir wieder eingreifen würden. Vorallem, da wir ja am selben Ort wohnen wie der Vater des Schlägers und so immer mit Sanktionen rechnen müssen. (auch wegen unseren Kindern)

  10. Hallo Marcel :)! Ich bin per Zufall auf Deinen Blog und den interessantenn Artikel gestossen. Super, dass Du nicht mit dem Strom schwimmst, sondern hinschaust und hilfst wos nötig ist. Solche mutige und entschlossenen Menschen braucht es noch viel mehr. Leider ist Hilfsbereitschaft für viele in der heutigen schnelllebigen Gesellschaft ein Fremdwort geworden. Schade und traurig zugleich :). Auch ich versuche nicht mit Scheuklappen zu leben, sondern schaue gerne nach links und rechts und mische mich ein, wo ich es für richtig und nötig halte. Zivilcourage bedeutet für mich nicht nur, sich todesmutig in einen reissenden Fluss zu springen um einen Ertrinkenden zu retten. Bürgermut bedeutet für mich in erster Linie Zeichen setzen, sich Einsetzen für Schwächere und Hilflose – einfach da zu sein für andere in unserem Alltag: einer betagten Frau über die Strasse helfen, einer gehbehinderten Person seinen Platz im ÖV anbieten oder einem Rollstuhlfahrer über eine Treppe zu helfen. Helfen kann und sollte jeder – es braucht bloss etwas Mut ;). Ich bin Frau und zudem Mutter zweier Kleinkinder. Dass ich mich nicht gerade in eine Schlägerei einmische und mich möglicherweise selber gefährde, versteht sich von selbst. Doch auch hier kann gehandelt werden – im Hintergrund. Im Handyzeitalter ist es ein Leichtes, in einem solchen Fall die Polizei bzw. Ambulanz zu alarmieren. Vor Jahren pöbelte ein aggressiver Typ eine arbeitslose Zeitungsverkäuferin an – es wimmelte von Leuten, doch niemand, bis auf mich, schritt ein. Ich trat zwischen die beiden und machte dem Mann freundlich klar, dass er die Frau in Ruhe lassen und verschwinden sollte. Und: es klappte, der Mann zog fluchend davon ;). Das gab mir zusätzlich Selbstbewusstsein, etwas erreichen zu können. Vor kurzem stürzte eine Nachbarin unglücklich auf den Hinterkopf. Dabei zog sie sich eine grosse, stark blutende Platzwunde zu. Es gelang mir die Blutung etwas zu stillen, die Frau mit Hilfe eines Passanten in die stabile Seitenlage (der Nothelferkurs ist jetzt auch schon 20 Jahre her :-o) und die Sanität zur rufen. Nun weiss ich, dass ich auch bei Unfällen mit viel Blut die Nerven behalten und richtig reagieren kann – ein gutes Gefühl ;). All jene, die bei solchen Situationen lieber gaffen statt helfen, sollen zwei Dinge bedenken: 1. Unterlassene Hilfeleistung ist ein Delikt und wird geahndet! 2. Auch sie könnten mal Opfer werden und wären in diesem Fall froh um rettende/helfende Drittpersonen! Mit etwas mehr Mit- und Füreinander statt Gegeneinander wird das Zusammenleben viel schöner, friedlicher und harmonischer :)!

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